Nomadland
Nomadland
USA, 2021
Regie: Chloé Zhao
Genre: Drama
Darsteller: Frances McDermond, David Straithairn, Linda May, Charlene Swankie
Musik: Ludovico Einaudi
Man könnte „Nomadland“ kritisieren. Dafür, dass die Firma Amazon im Film eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Dafür, dass es scheinbar keine Konflikte unter den Arbeitsnomaden gibt, beispielsweise bei der Konkurrenz um Jobs. Dafür, dass scheinbar zu wenig Elend und zu viel Sozialromantik gezeigt werden. Dafür, dass das System USA einen Teil seiner Bürgerinnen und Bürger zwingt, den prekären Jobs hinterher zu reisen.
Dass Letzteres so ist, steht außer Frage. Darauf gründet der Film, der auf dem gleichnamigen Buch von Jessica Bruder basiert. Die chinesischstämmige Filmregisseurin Chloé Zhao hat daraus einen Kinofilm mit dokumentarischen Zügen gemacht.
Seit der Finanzkrise 2008 wächst in den USA die Zahl der sogenannten Workamper, Menschen ohne festen Wohnsitz, die von Job zu Job reisen und in ihren Vans oder Pickups leben. Sie arbeiten als Erntehelfer, als Saisonkräfte in Nationalparks, als Servicekräfte in der Gastronomie oder als Wachleute.
Die Witwe Fern, Anfang 60, verliert mit der Schließung der US Gypsum Corporation im winzigen Wüstenort Empire im nordwestlichen Nevada auch Arbeit und Zuhause. Also packt sie das Nötigste in einen alten Campervan und macht sich als Workamper auf die Suche nach Jobs.
Chloé Zhao lässt den Zuschauer zu Beginn des Films das Leben der Arbeitsnomaden kennenlernen. In schnell wechselnden Einstellungen sehen wir Ferns neues Leben. Wie sie am Steuer ihres Vans sitzt und Lieder im Radio mitsingt hat fast etwas Versöhnliches. Sie hadert nicht mit ihrem Schicksal, scheint fast zufrieden oder nimmt es zumindest mit einer Art stoischer Gelassenheit. Wir sehen sie wie sie in ihrer winzigen Camperküche Essen kocht, vor ihrem Wagen sitzt, an einem Kaffee nippt und in die scheinbar unendliche Wüste sieht, abends auf einem einsamen Parkplatz in ihrem Bett liegt.
Es ist Winter, Vorweihnachtszeit. Fern findet Arbeit in einem Lager von Amazon, wo sie Pakete packt und auf andere Workamper trifft. Darunter Linda May und Charlene Swankie, „echte“ Workamper, die sich weitgehend selbst spielen und dem semifiktionalen Roadmovie Authentizität verleihen.
Fern erfährt vom RTR, dem Rubber Tramp Rendezvous, einem jährlichen Treffen von Workampern im äußersten Südwesten von Arizona. Auch dieses Camp gibt es wirklich ebenso wie seinen Begründer Bob Wells, der ebenfalls im Film als er selbst auftritt.
Mehr als einmal wird Fern eine Unterkunft angeboten. Erscheint das Angebot einer Bekannten im Vorbeigehen im Supermarkt noch wie reine Höflichkeit, wird sie von ihrer Schwester Dolly schon eindringlicher gebeten, doch zu ihr zu ziehen. Als ihr der Workamper Dave (David Straithairn), mit dem sie sich angefreundet hat, und der zu seinem Sohn gezogen ist, als dieser Vater wurde. Besucht, versucht auch dieser, sie zum Bleiben zu bewegen. Im gleichen Maße wie die Angebote zum Bleiben intensiver werden, scheint bei Fern die Überzeugung zu wachsen, dass dieses neue Leben tatsächlich ihr Leben ist.
Man kann den Film als eine Parabel auf das Leben an sich verstehen. Es geht um Geburt und Tod, Freundschaft und Familie, um Entscheidungen, getroffene und noch zu treffende. Es geht um harte Arbeit, die auch krank machen kann aber auch um Gemeinschaft und laue Abende am Lagerfeuer, wenn die gesamte Campercommunity laut und fröhlich Lieder singt, dass man meinen könnte, sie alle wären auf einer sorglosen und unbeschwerten Reise.
Das sind sie nicht. Während des ganzen Films ging mir John Steinbecks „Grapes of Wreath“ (dt. „Früchte des Zorns“), der Roman über eine Farmerfamilie aus Oklahoma in den 1930erjahren, die ihre Heimat gen Westen verlässt, weil ein Flyer, der Erntehelfer anwerben soll, ihnen Arbeit auf kalifornischen Obstplantagen verspricht, nicht aus dem Kopf. Als ich zu Schulzeiten Teile des Romans zum ersten Mal gelesen habe, dachte ich noch, dass das alles lange her sei und sich etwas Vergleichbares sicher nicht wiederholen könne. Aber die Workamper von heute sind doch in gewisser Weise die Joads des 21. Jahrhunderts.
Der Film lässt viel Raum für die eigenen Gedanken. Er erklärt nicht, er beobachtet und bleibt ganz nah an der Hauptfigur Fern, die von Frances McDermond so wunderbar dargestellt wird, dass man ihr die Arbeitsnomadin in jeder einzelnen Szene abnimmt.
Mich hat lange kein Film in diesem Maß beeindruckt. Nicht zuletzt auch aufgrund der Filmmusik von Ludovico Einaudi, Wunderbare Klavierstücke, die die Landschaftsaufnahmen stimmungsvoll untermalen.
An dieser Stelle möchte ich gern auch ausdrücklich die Vorlage für den Film, das gleichnamige Buch der Journalistin Jessica Bruder empfehlen, die jahrelang mit den Arbeitsnomaden durch die USA zog, unzählige Interviews führte und umfangreich ein Thema beleuchtet, dass aufgrund des demografischen Wandels und der immer höheren Lebenserwartung zumindest in den westlichen Industrienationen an Bedeutung eher zunehmen wird.