Nordische Filmtage 2021
Zurück in die Normalität
Die Nordischen Filmtage 2021 waren in vielerlei Hinsicht besonders.
Da war zunächst einmal die große Freude bei Besucherinnen und Besuchern, Filmschaffenden wie Organisierenden darüber, ein Filmfestival endlich wieder live erleben zu dürfen, da die diesjährigen Filmtage hybrid, im Kino und online stattfinden konnten.
Das war vor allem am Eröffnungsabend spürbar. Wer am Eingang zur Stadthalle Test, Impf- oder Genesenennachweis vorweisen konnte, durfte sich ins Getümmel stürzen. Vor der Fotowand gaben sich Grüppchen von Filmteams die sprichwörtliche Klinke in die Hand. Auch eine Gruppe aus Island war dabei. In ihrer Mitte Hannes Halldórsson, inzwischen ehemaliger Torwart der isländischen Fußballnationalmannschaft der Herren. Er stellte hier sein Erstlingswerk vor.
Auf der anderen Seite des Foyers waren Kameras auf eine blonde Frau mit Pferdeschwanz in einem orangefarbenen Hosenanzug gerichtet: Trine Dyrholm, die derzeit bekannteste dänische Schauspielerin, sollte mit einem neu geschaffenen Ehrenpreis ausgezeichnet werden, präsentierte neben ihrem neuen Film "Magrete - Queen of the North" fünf weitere Film aus ihrer langjährigen Karriere.
Thomas Hailer, der neue künstlerische Leiter, erst in diesem Jahr von der Berlinale nach Lübeck gewechselt, schlenderte durchs Foyer, die Hände auf dem Rücken, ein leises Lächeln auf den Lippen, fast unbeobachtet. Er sah zufrieden aus. Die Vorbereitungsschlacht zu seinen ersten Nordischen Filmtagen in der neuen Funktion waren geschlagen.
Eine halbe Stunde später stand er mit Geschäftsführerin Susanne Kasimir vor der Leinwand in Kino 3 der Stadthalle und eröffnete offiziell die 63. Nordischen Filmtage 2021.
Nach einer bewegenden, sehr persönlichen Laudatio ihrer langjährigen Wegbegleiterin, der Regisseurin Annette Olesen, nahm Trine Dyrholm den Ehrenpreis entgegen. Nicht nur die Ehrung ist neu, auch der Preis in seiner physischen Form. In diesem Jahr würden Preisträgerinnen und Preisträger einen Lübecker Backstein mit aufmontierter Metallplakette mit nach Hause nehmen. Eine sehr schöne Idee. Sie würden ein Stück Welterbe in die Länder mitnehmen, die oft schon geschichtlich so viel mit Lübeck verbindet.
Auch der Eröffnungsfilm war in diesem Jahr besonders. Nicht nur, dass eine Actionkomödie als Eröffnungsfilm ungewöhnlich ist, auch die Tatsache, dass von einem Profisportler, einem bekannten Nationaltorwart stammt, war mehr als ungewöhnlich.
Hannes Halldóirsson erzählte von den Dreharbeiten und dass so mancher Drehtag morgens um vier begann, damit er nachmittags um vier auf dem Trainingsplatz stehen konnte.
"Von mir aus werd' Filmemacher," hatte sein Trainer gesagt, "aber du stehst pünktlich zum Training im Tor."
Ob ihm dieser Spagat gelungen war, würde auch die Filmpreisverleihung zeigen, bei der auch ein Preis für das beste Spielfilmdebut ausgelobt war.
Die nächsten Tage waren geprägt vom Filmegucken. Wenn möglich im Kino. Es ist einfach schöner, Filme auf der großen Leinwand mit gutem Sound zu sehen und mit anderen Zuschauenden ins Gespräch zu kommen. Zwischendurch sehe ich aber auch Filme am heimischen Bildschirm. Morgens beim Frühstück, im Bademantel - sehr gemütlich. Thomas Hailer wird später bei der Anschlusspressekonferenz sagen, dass es ohne die Digitalisierung nicht ginge.
Wie immer gibt es auch Veranstaltungen um das eigentliche Programm herum. So findet in der ehemaligen Seefahrerkirche St. Jakobi die bemerkenswerte Aufführung des über viele Jahre restaurierten Stummfilms "Die Wallfahrt nach Kevlaar" mit einem musikalischen Konzept von Studierenden der Lübecker Musikhochschule statt.
Am Samstagvormittag treffen sich im Koki die Fans des großen Ingmar Bergman. Die Übersetzerin Renate Bleibtreu, Schwester bzw. Tante von Monica und Moritz Bleibtreu, hat eine Auswahl der Filmtagebücher Bergmans ins Deutsche übersetzt und als Buch herausgegeben. Renate Bleibtreu hat ein immenses Wissen über den bekannten schwedischen Filmemacher und schafft es, in mir Begeisterung zu wecken. In Zukunft werde ich mich sicher mehr mit Bergman beschäftigen.
Das Festival geht langsam in die Zielgerade. Abends steigt die Preisverleihung, aber vorher habe ich noch eine persönliche Herausforderung zu meistern, ein Interview mit Bent Hamer, das allererste Interview meines Lebens und dann auch gleich auf Englisch. Aber der norwegische Filmregisseur macht es mir leicht. Aus dem geplanten fünfzehnminütigen Interview wird ein halbstündiger angeregter Austausch über Hamers neuen Film "The Middleman".
Am Abend liegt wie jedes Jahr ein Hauch von Filmfestival-Glamour über dem Theater in der Beckergrube. Preisverleihung. Punkt 20:00 Uhr begrüßt der Schauspieler und Moderator Stephan Szasz wie schon in den vergangenen Jahren die Gäste
Die finnisch-französisch-deutsche Coproduktion "The Gravedigger's Wife" war mit zwei Preisen der Gewinner des Abends. Neben dem Hauptpreis, dem mit 12.500 Euro dotierten NDR-Spielfilmpreis gab es auch den Kirchlichen Filmpreis Interfilm.
Auch "The Blind Man Who Did Not Want To See Titanic" von Teemu Nikki wurde zweifach ausgezeichnet. Produzent Jani Pösö nahm den baltischen Filmpreis entgegen und durfte sich über eine lobende Erwähnung der Jury des Kirchlichen Filmpreises Interfilm freuen.
Und schließlich hielt Hannes Halldórsson den Beweis dafür in Händen, dass der Spagat zwischen Fußballtraining und Filmdreh ganz offensichtlich geglückt war, den Preis des Freundeskreises der Nordischen Filmtage für das beste Spielfilmdebut.
Der Publikumspreis ging an "Magrete - Queen of the North" von Charlotte Sieling mit Trine Dyrholöm und Sǿren Malling.
Besonders gefreut habe ich mich über den Preis der Jugendjury für "Ninja Baby" und damit möchte ich denn auch auch meine persönlichen Filmempfehlungen beginnen.
"Ninja Baby", Norwegen 2021
Erinnern Sie sich noch an die Serie "Berlin, Berlin" aus den frühen Zweitausendern, in der die junge Comiczeichnerin Lolle aus der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Malente ins hippe Berlin zieht? Zwischen den Spielszenen tauchen immer wieder animierte Szenen auf, die Lolles Gedanken und Gefühle darstellen. Ganz ähnliche Szenen, die doch ganz anders sind, gibt es in "Ninja Baby". Die junge Grafikdesignstudentin Rakel zeichnet viel lieber Comics und verbringt ihre Zeit beim Aikido-Training als sich auf ihr Studium zu konzentrieren.
Als sie ungewollt schwanger wird, muss sie sich plötzlich auf sehr ungewöhnliche Art mit ihrer Schwangerschaft auseinandersetzen.
"Ninja Baby" ist ausgesprochen witzig. Intelligent-witzig. Nun betrachtet man Kinder- und Jugendfilme aus Erwachsenensicht ja gern mit einem gewissen Anspruch, sei es intellektuell oder pädagogisch. Dabei käme es doch vielmehr darauf an, wie die Zielgruppe auf den Film reagiert.
Die Macherinnen und Macher von "Ninja Baby" müssen sich darüber kaum Gedanken machen.
Die Jugendjury der Nordischen Filmtage Lübeck, vier Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren,
hat "Ninja Baby" mit dem Preis für den besten Jugendfilm ausgezeichnet.
"Magrete - Queen oif the North", Dänemark 2021
Es ist das Jahr 1402. Die dänische Königin Magrete hat die skandinavischen Länder zur Kalmarer Union vereinigt und möchte nun deren Macht durch die Verlobung ihres Adoptivsohnes Erik mit der englischen Prinzessin Philippa festigen.
Da sieht sie sich plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die sie nicht nur in politische, sondern auch in höchste emotionale Nöter bringt und Zusehende an die Zarenfamilie Romanow denken lässt.
Der Regisseurin Charlotte Sieling ist ein wunderbar opulenter Historienfilm gelungen und Trine Dyrholm ist als Magrete zwischen politischem Anspruch und emotionaler Zerrissenheit überragend.
Es ist zu hoffen, dass dieser Film den Weg in die deutschen Kinos findet.
"The Middleman", Norwegen 2021
Dem Mittdreißiger Frank Farelli aus der Kleinstadt Karmack im Rust Belt der USA erschein es wie ein Lottogewinn als ihn die Stadtverwaltung als "Middleman" einstellt. Er bekommt sogar Visitenkarten. Seine Aufgabe? Es häufen sich Unfälle mit tödlichem Ausgang in der kleinen Stadt und jemand muss den Hinterbliebenen die traurige Nachricht schonend überbringen. Der Middleman.
Ein Drama mit schwarzem Humor, eine Art Western wie Regisseur Bent Hamer im Interview selbst sagt und vo rallem ein sehenswerter Film.
Wäre "The Middleman" ein in die USA ausgewanderter Mensch aus Norwegen, könnte man die Integration getrost als gelungen betrachten. Der film ist sehr amerikanisch, so wie ihn Bent Hamer haben wollte.
Cop Secret, Island 2021
Wenn sich ein erfolgreicher Fußballer, Torwart seiner Nationalmannschaft zudem, aufs Filmemachen verlegt und das nicht nach, sondern noch während seiner Fußballkarriere, was kommt dann wohl dabei heraus?
Im Falle von Hannes Thor Halldórssons "Cop Secret" eine unglaublich witzige, manchmal überdrehte und sehr unterhaltsame Satire auf allzu ernstgemeinte Actionfilme mit coolen Männern und auf ihres Äußeres reduzierte Frauen, die einer Feministin wie mir die Nackenhaare zu Berge stehen lassen..
Je besser man Island, Reykjavik und die Isländer kennt, desto mehr witzige Anspielungen wird man erkennen, aber auch ohne fundierte Kenntnisse der Insel im Nordatlantik wird man viel zu lachen haben.
Für wen ist der Film? Für alle Actionfans, die mit Vorliebe Actionfilme sehen und alle, die einfach mal wieder Bock auf einen unterhaltsamen Film haben.
Dieser Torwart kann auch Film.
Lamb, Island 2021
In diesen Film bin ich nur der Hauptdarstellerin wegen gegangen: Noomi Rapace.
Das kinderlose Ehepaar Maria und Ingvar lebt ein einfaches und zufriedenes Leben als Bauern auf einer abgelegenen Farm in Island. Sie züchten Schafe. Als eines Tages ein besonderes Lamm das Licht der Welt erblickt, scheint das Leben der beiden zunächst vollkommen. Zunächst...
Ein Film wie aus der isländischen Sagenwelt und eine gute Rolle für Noomi Rapace, auch wenn es schwerfällt, in ihr jemals etwas anderes zu sehen als Lisbeth Salander.
"Hello World" beleuchtet das Leben von queeren Jugendlichen in Norwegen. Ist es leichter in der Großstadt als auf dem Land? Wie reagieren Eltern, Geschwister, Freunde Lehrer? Wie gelingt es, eine eigene Persönlichkeit zu entwickelt auch gegen Widerstände. Ein auch im 21. Jahrhundert immer noch wichtiger Film über vier ganz normale Jugendliche. Der Film bekam von der Jugendjury eine lobende Erwähnung.
"Arica" heißt der Film nach der Wüstenstadt Arica in Chile. In den Achtzigerjahren verschiffte die schwedische Bergbaufirma Boliden hochgiftigen Klärschlamm aus dem heimischen Goldabbau dorthin, wo er ordnungsgemäß verarbeitet werden sollte. Vieles jedoch wurde auf einem Gelände in der Stadt einfach gelagert.; ohne jeglichen Schutz. Kurz darauf stieg die Zahl der Krebserkrankungen speziell in der ärmeren Bevölkerung in schwindelerregende Höhen, Babys kamen mit schwersten Geburtsfehlern und Behinderungen zur Welt.
2010 machten Lars Edman und William Johansson mit ihrer Dokumentation „Blybarnen“ den Fall bekannt und inspirieren ein Team unerschrockener Anwälte, Klage gegen Boliden zu erheben.
Der Film "Arica" verfolgt den Prozess und beleuchtet die Schicksale der Betroffenen.
Der in Chile geborene Lars Edman, agiert als Regisseur und Protagonist. Er tritt im Verfahren als Zeuge der Anklage auf. Rastlos zwischen seinem Heimatland Schweden und seinem Geburtsland Chile pendelnd, kämpft er um Gerechtigkeit.